25. Europäische Kulturtage 2021, 2. - 16. Mai 2021

Europa, ein Versprechen

Einführung


Susanne Asche und Peter Spuhler

SUSANNE ASCHE, Direktorin Kulturamt Stadt Karlsruhe
PETER SPUHLER, Generalintendant Staatstheater Karlsruhe

Europa – ein Versprechen …
Der Weg nach EUtopia

Was ist Europa? Ein Kontinent? Ein Wirtschaftsraum? Ein Rechtsraum? Ein Kulturraum? Ein Friedensraum? Ein lockerer Staatenverbund?

Vor etwas über einem Jahr hat das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland die Europäische Union verlassen, seit einigen Jahren wird die EU als starker Wirtschaftsraum von außen angegriffen, seit einigen Jahren haben sich in einigen europäischen Staaten starke Gegenkräfte gegen die EU entwickelt, seit 2015 ist die europäische Solidarität mit Blick auf die Geflüchteten und Vertriebenen, die nach Europa streben, aufgekündigt, dazu werden seit einigen Jahren in wenigen Mitgliedsstaaten Grundrechte verletzt und Rechtssysteme unterhöhlt, Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt, kurz, die Europäische Werteskala wird aufgekündigt.

All das hatten wir vor Augen, als wir das Thema wählten: Europa – ein Versprechen … Wir wollten belegen, dass die Ideen, die in Europa entstanden sind, und für die die Europäische Union einsteht, etwas sind, für die es sich einzusetzen lohnt, die es zu verteidigen gilt. Ehemals tief verfeindete Staaten leben friedlich neben- und miteinander, offene Grenzen wie in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg, unbeschränkte Reisefreiheit, die Möglichkeiten, überall in Europa zu studieren und zu arbeiten, und vor allem der Anspruch auf Menschen- und Grundrechte für alle in der EU lebenden Menschen, wie er in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in den Titeln I bis V von der Würde des Menschen über Freiheiten, Gleichheit, Solidarität und Bürgerrechte niedergelegt wurde.

Wir wollten beweisen: Europa ist eine Eutopie, ein Glücksland, es ist ein EUtopia, um das es lohnt zu kämpfen, es zu schützen, dafür einzustehen Mitten in der Schlussphase der Vorbereitungen begann die Pandemie Das Coronavirus Covid-19 stürzte weltweit und auch die westeuropäischen Gesellschaften, in eine tiefe Depression, weil es keine Patentrezepte gab, wie mit der Krise umzugehen sei. Das öffentliche Leben wurde mit sogenannten Lockdowns großenteils eingefroren, und die Jubiläumskulturtage deshalb zunächst verschoben.

Nachdem sich die pandemische Lage im Sommer 2020 entspannte, wurde der Faden im folgenden Herbst wieder aufgenommen. Doch das Virus kam in einer anderen Variante zurück, und in den Tagen, in denen dies geschrieben wird, scheint sich eine dritte Welle aufzubauen. In irgendeiner Weise waren und sind inzwischen alle von der Pandemie betroffen: Ältere, Kinder, in Medizin und Pflege Beschäftigte, viele Eltern, viele alleinerziehende Mütter und Väter fühlen sich im Home-Office überlastet, Alleinstehende leiden unter Kontaktarmut. Von den noch unklaren wirtschaftlichen Folgen nicht zu reden. Und die Zahl der Menschen, die dem Virus allein in Europa erlegen sind, ist in die Hundertausende gestiegen –

Auf eine besondere Weise sind die Künste betroffen: Theater, Kinos, Museen, Galerien waren bis auf wenige Tage geschlossen. Der Kontakt der Künstler*innen zu ihrem Publikum war, vom Fernsehen und von Sozialen Medien abgesehen, unterbrochen. Ihnen fehlte die Reaktion ihres Publikums, dem wiederum Anregungen und manchmal auch die Ablenkung vom Alltag. Dies war die Situation im Frühjahr 2021, in der alle Beteiligten unverzagt an der Umsetzung dieser 25. EKT weitergearbeitet haben. Schließlich waren und sind es gerade die Künste aller Sparten und die Wissenschaften, die die Vielfalt und den Reichtum dieses Kontinents und auch der Europäischen Union ausmachen. Es waren deren Sprachen, die selbst in den Zeiten der europäischen Kriege alle Grenzen überwanden und über die Jahrhunderte einen trotz aller Unterschiede gemeinsamen europäischen Kulturraum schufen. Der reicht weit über die EU hinaus, wenn man Kolonialismus und Imperialismus und alle damit zusammenhängenden, bis heute anhaltenden Folgen betrachtet, auch die negativen.

WAS IST DIESES EUROPA?

Es ist geprägt von Sagen, Mythen und Geschichten, durch den Aufstieg, die Blüte und den Untergang von Reichen und Kulturen, von kulturellen, künstlerischen, geistigen, technischen und wissenschaftlichen, von ökonomischen, rechtlichen und sozialen Errungenschaften, von Religionen und ihrem Widerstreit, von Katastrophen, von Unterwerfung, Krieg, Vernichtung und Menschheitsverbrechen innerhalb und außerhalb des Kontinents, vom Ringen um Anerkennung und Realisierung von Grund- und Menschenrechten und von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen sowie von deren permanenter Bedrohung, von einem wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Zusammenwachsen seit etwa 70 Jahren und von aktuellen Gefahren des Auseinanderdriftens.

Was also könnte, angesichts dieses ungeheuren Bedeutungs- und Verständnisspektrums „Europa“, der Gegenstand sein, zu dem wir im Festival vor nunmehr über zwei Jahren eingeladen haben? Für welches Europa können wir ein Bekenntnis abgeben, verbunden mit dem Wunsch für ein weiteres Zusammenwachsen der europäischen Staaten und Regionen in Vielfalt?

Konkret: Das Europa der Kultur umfasst einen sehr viel größeren Raum als die EU Europa und die Europäische Union sind zwei Begriffe, die sich teilweise überlagern, aber nicht dasselbe bedeuten. Dies wird während dieser 25. EKT an zwei Gedenktagen deutlich: Am 5. Mai, wenn der Europatag des Europarates in Straßburg gefeiert wird, und am 9. Mai, wenn die EU ihren Europatag begeht. Wenn der Europarat – nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat der Staats- und Regierungschefs der EU – am 5. Mai 2021 seinen Europatag feiert, sind unter den 47 Ländern einige, in denen Demokratie und rechtsstaatliche Grundprinzipien wenig beachtet werden, obwohl deren Sicherung zu den Aufgaben des Europarats gehört

Wenn die EU am 9. Mai 2021 ihren Europatag begeht, erinnert sie an ihren Ursprung, die Schuman-Erklärung, und feiert eine Europäische Union und deren kulturelle Vielfalt Die sieht in grenzüberschreitender Zusammenarbeit der Wissenschaften, der Künste und nicht zuletzt der Wirtschaft und im nach Außen gemeinsamen politischen Handeln Chancen für eine sichere und gerechte Zukunft der hier Lebenden.

Und das Europa der EU hat einiges zu versprechen: Während die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 Frauen noch ausschloss, und Olympe de Gouges wegen ihres Entwurfs einer Erklärung der Frauen- und Bürgerinnenrechte auf der Guillotine starb, hat die EU mit der schon erwähnten „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ diese Rechte in weiten Teilen hin zu individuellen Rechten einzelner Personen und Personengruppen ausgebaut So sind die Mitglieder der EU aufgefordert, die „Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen … sicherzustellen“. Die Türkei, noch Beitrittskandidatin zur EU, ist im März 2021 aus der Istanbul-Konvention von 2011 ausgetreten, die Gewalt gegenüber und an Frauen verhindern soll.

Wenn es um die Versprechen Europas, der EU, geht, ist es wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass im Europa der EU seit über sieben Jahrzehnten Frieden herrscht. Es ist die längste Friedensepoche, an die Menschen sich in Europa erinnern können. Dieser Frieden war auch eine Dividende des Kalten Kriegs, dessen symbolische Grenze die Berliner Mauer und der mit Stacheldraht und zeitweise mit Selbstschussanlagen bewehrte innerdeutsche Grenzzaun darstellten. Diese Jahre waren und sind eine Zeit wirtschaftlichen Wachstums, kleine Rückschläge inbegriffen.

Doch wie ist es um die Versprechen des Kontinents, der EU bestellt? Welche sind das überhaupt, und welche Hoffnungen verbinden sich mit ihnen? Diese Europäische Union ist eine Insel des Rechts, denn um die Menschenrechte, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 aufgestellt werden, ist es in sehr vielen Ländern der Erde – fast alle sind Mitglied der Vereinten Nationen – schlecht bestellt Doch wird der Rechtsstaat auch in Mitgliedsstaaten der Union seit einigen Jahren untergraben.

Die EU ist aber auch ein Wohlstandsversprechen. Die Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) war im Wesentlichen friedensbewegt Kriegswichtige Ressourcen sollten gemeinsam verwaltet werden.

Das war das erste Ziel des französischen Unternehmers und Verwaltungsfunktionärs Jean Monnet sowie der Politiker Alcide de Gasperi und Robert Schuman. De Gasperi wurde als Österreicher geboren und war nach dem Ersten Weltkrieg Italiener, Schuman war ein in Luxemburg geborener Deutsch-Elsässer und wurde nach dem Zweiten Weltkrieg Franzose Der Vierte im Bund war der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer. Er sah in der EGKS eine Chance, die BRD im Westen zu verankern. Der Rest ist Geschichte: Auf die EGKS folgten die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und schließlich – mit Zwischenschritten – die EU.